Schaut, so arbeite ich: Im August nahm ich an einem Schreibwettbewerb des Züricher Literaturhauses teil. Das Thema variiert monatlich, im August lautete es: Sanftmut. Da ich von Menschen, die mich nicht so gut kennen, für gewöhnlich als das sanftmütigste und eleganteste Wesen der westlichen Welt bezeichnet werde, war es klar, mich diesem Thema widmen zu müssen. Natürlich habe ich nicht gewonnen *wein*, bis auf die Erfahrung einen Text zu schreiben, was zumindest EINE Erfahrung ist und ich als lebendiger Mensch natürlich unter anderem auch ein Erfahrungsaneignungsorganismus bin. Außerdem ist mitmachen ja wie gewinnen [nur mit Sahne] – das hat schon Udo Jürgens gesagt [oder ein anderer Weiser]. Doch genug der absurden Humorversuche. Ich zeige euch den Text dennoch, denn er ist nicht sonderlich lang [das heißt, man kann ihn schnell bei einem Hawaiitoast wegsnacken] und er gefällt mir auch noch ganz gut. Vielleicht bringt das jemandem irgendwas – im besten Fall – wie immer – Spaß und andere Gefühle. Die zentrale Idee lautet: Sanftmut ist eine unterschätzte Eigenschaft und im alltäglichen Diskurs eher eine Schwäche, der man sich – wenn man erwachsen werden möchte – entledigen sollte.
Lesezeit: 5 Minuten
Im Anschluss erzähle ich euch von der Entstehung und der Schaffungsabsicht.
Ein Ereignis, das astraler Scheiß sein muss
Wenn du mich berührst, am Arm, du weißt schon wo, direkt unterhalb des Ellenbogens, diese Stelle, die du „Final Frontier“ nennst, weil du diese alten Star-Trek-Filme so magst, mit dem aufgeblähten, aber charmanten Shatner, und ich dennoch nicht weiß, wie du das eigentlich meinst, da es nicht witzig ist und irgendwie lächerlich wirkt und du, während du es aussprichst, sogar deine Augenbrauen zusammenkneifst und es eigentlich so scheint, als würdest du mit dir und nicht mit mir reden, immer wenn du mich dort berührst, spüre ich, dass da noch etwas anderes in dir ist, etwas Verschwiegenes, das ich jedoch nur erahnen kann und dann, wenn ich dich anschreie, als Reaktion darauf, dass ich an genau dieser Stelle nicht berührt werden will, wenn ich dir unweigerlich glühende Wut entgegenspeie, wird es kurzzeitig sichtbar, dieses Etwas, in diesem Moment, in dem deine Augen zunächst ganz starr werden, als wärest du ein Kind, das beim Klauen ertappt wurde, und dann ganz weich [das erkenne ich an dem geschwungenen Bogen deines oberen, rechten Lides] und du mit einem sanften Scherz zu überspielen versuchst, dass du mich provoziert hast und ich zu heftig darauf reagiert habe, aber was ich dir damit sagen möchte ist: Ich sehe es dir an, dieses Verschwiegene, dieses schwer Benennbare, denn noch vor dem Ereignis sah ich es auch bei anderen Gelegenheiten, etwa, wenn dich jemand anrempelte in der Straßenbahn; wenn mein Vater sich über deine Klamotten lustig machte; wenn deine Mutter dir nicht zuhörte, den ganzen Abend und du immer wieder versuchtest, etwas über dich zu erzählen und sie dir ständig ins Wort fiel; wenn du beim Einkaufen von einer Verkäuferin grundlos abfällig behandelt wurdest, da wurde es mir bereits deutlich, zunächst vielleicht noch präverbal, wie man so sagt, doch nicht nur mir, auch anderen, die dies als deine größte Schwäche bezeichneten, dieses fast schon unheimliche Vermögen, einstecken zu können, egal was man dir entgegenschleudert, dass du in diesen Situationen eben nicht von einer – meiner Meinung nach – gerechtfertigten, vielleicht sogar notwendigen Gemütserregung ergriffen wirst und du keine bunten [vor allem fäkalfarbigen] Begriffe verwendest und keine Ohrfeigen, wie in einem schlechten Bud-Spencer-Film, verteilst, sondern stattdessen diese alltäglichen, kleinen Abscheulichkeiten aufsaugst, die uns umgeben, diesen toxischen Schleim, der nun mal abgesondert wird, von lebenden Menschenwesen, in dich übergehen lässt [osmotisch oder wie?] und verdaust [oder was machst du eigentlich damit?] und – was wahrscheinlich wäre – daran leise leidest, bis es schließlich zu einem Ereignis kommt und unsere Vermutungen, also auch die von den Anderen, zwar irgendwie bestätigst, aber auch vollkommen widerlegst, denn statt endlich auszubrechen, aus dieser Rolle [die du vielleicht gar nicht freiwillig einnimmst?] und all das Verderbliche, dass du vorher schlucken musstest, herausbricht aus dir und dich endlich befreit [zumindest denk ich das, zumindest glaube ich, du solltest befreit werden] und alles um dich herum in Feuer und Staub verwandelst – und das zurecht –, glühst du einfach nur wie eine Leuchtkugel und alle Empfehlungen von anderen, dass du doch endlich so grausam sein sollst wie der Rest der Welt (weil wir grausam sein müssen, weil wir Menschen sind, weil Menschen grausam sind, weil sie Menschen sind und weil es nicht anders geht, weil es nicht anders geht, weil es vernünftig ist, grausam zu sein, weil alle Menschen grausam sind), prallen an dir ab, gelangen gar nicht an dich heran, weil sie irgendwie ihrer überzeugenden Wirkung enthoben werden [von was auch immer] und in diesem Moment, wenn das Ereignis eintritt und du da hochgeschossen wirst und miniaturhafte Funken, ganz albern, wie in einem Animationsfilm, herabregnen und das irgendwie ein astraler, abgefahrener Scheiß ist, den keiner versteht [die offenstehenden Münder und der herauslaufende Sabber legen Zeugnis davon ab], wünsche ich dir einfach nur [weil mir nichts anderes einfällt] Glück und Frieden und Liebe, wobei ich mir sicher bin, dass du diese bereits besitzt. Was ich dir eigentlich sagen will ist: Werde nicht grausam! Aber bitte! Komm zurück!
Entstehung und Erschaffungsabsicht:
Ich denke, es ist relativ klar, warum der Text nicht gewonnen hat: Es ist keine Kurzgeschichte, sondern ein sehr langer Satz, den man lesen wollen muss. Dies war auch meine Absicht hinsichtlich der Form: den längsten Satz meiner Schreibgeschichte formulieren und in diesem einen Satz alles sagen, was es zu dem Thema zu sagen gibt (was natürlich glücklicherweise nicht gelungen ist), sodass dieser eben nicht einfach gelesen werden kann, sondern sich angeeignet und verdaut werden muss, vielleicht muss man auch drauf rumkauen, aber hoffentlich nicht ausspucken. Das ist für die Leser*in natürlich zunächst gemein, diese/der will ja schließlich bloß ein bisschen was zu sich nehmen und wenn diese/der ein ebenso fragmentiertes Alltagsbewusstsein hat wie der Autor, dann hat er/sie wenig Zeit, um sich in Dinge einzulesen, was sehr schade ist. Da kann ich nur sagen: sorry. Aber anders ging es auch nicht.
Da ich derzeit meine, inhaltlich nicht besonders originell zu sein, konzentriere ich mich auf die Form und natürlich tue ich dies auf der Suche nach DEM Text, DEM Text, der genügt, um die Struktur der Wirklichkeit zu enthüllen [ja, Größenwahn ist immer dabei und manchmal scheint er durch den alltagsrealistischen Pragmatismus]. Derzeit gehe ich davon aus, dass diese Form von Text Komplexität vermitteln muss, denn – davon gehe ich derzeit ebenfalls aus – die Wirklichkeit scheint vielleicht sogar unendlich chaotisch/komplex zu sein, während unser Geist sinnvollen, aber verzerrenden Mechanismen folgt, die diese Komplexität handhabbar machen, dabei aber natürlich nur bruchstückhafte Erkenntnis produzieren. Wie ein literarischer Text hier Abhilfe schaffen soll, das sollte jetzt lieber niemand fragen! Gut so. Vielleicht kann man durch einen guten literarischen Text dieser Wahrheit aber nachspüren, ihrer irgendwie bewusst werden. Und vielleicht führt Überforderung durch Details in einem Satz zu einem kurzen Erkennen, dass nichts einfach einfach ist. Ob das alles wirklich sinnvoll ist, kann begründet bezweifelt werden. Für mich ergibt es momentan Sinn.
Inhaltlich ging es mir zumindest darum zu sagen (siehe zentrale Idee oben), dass Sanftmut etwas ist, das keinen guten Ruf hat. Niemand ruft nach ihr, doch jeder braucht sie (weil sanft zu sein unerlässlich ist, möchte man irgendwie eine gesunde Psyche aufrecht erhalten) und wen wir sie dann mal genießen, tun wir sie ab als etwas, das nicht zum Wesentlichen des Lebens gehört, sondern ins Private. Zudem gehen wir von dieser irrwitzigen Idee aus (ich zähle mich selbst dazu, obwohl ich diese Idee zumindest ganz gut in Zaum halten kann), dass der Mensch grundsätzlich böse ist, dem anderen Menschen Wolf, radikal böse oder whatever, dass jedes konstruktive, gütige, liebevolle Handeln immer nur irgendetwas Naives oder Nebensächliches, Nutzloses oder Hoffnungsloses wäre, weil es die wahre Natur der eigenen Spezies (man muss es nochmal sagen: Bösartigkeit oder im besten Fall instinktiver Egoismus) verkennt. Ich behaupte, selbst die progressiven, reflektierten Menschen, tragen dieses Zerrbild mit sich herum und fallen diesem – je nach situativer Konstellation – anheim. Es handelt sich also um ein kulturelles Erbe, das viel zu selten reflektiert wird. Es setzt sich implizit im Denken und schließlich im Handeln fort. Es ist so schön einfach, so schön griffig und damit nicht wirklichkeitsgerecht.
Vielleicht ist es auch interessant, dass wir den Mut männlich und die Sanftmut weiblich sprachlich symbolisieren. Vielleicht aber auch nicht.
Hier findet ihr übrigens den Gewinnertext für August: Systemfehler von Annegret Mühl. Lest diesen bitte, denn jeder gute Text ist es wert, gelesen zu wurden. Mir gefällt daran, dass er beim Erzählen zwischen Situation und Reflexion (sehr gekonnt) mäandert und sprachlich sehr gut verfasst ist. Was ich weniger gut finde ist, dass die Konstruktion der Pointe sichtbar wird (HJ-Treffen), die Erzählstimme des Ich-Erzählers für mein Empfinden nicht ganz authentisch klingt und das Thema „Sanftmut“ mir nicht so ganz ersichtlich wird. Aber bildet euer eigenes Urteil, es lohnt sich!
Ich hoffe, meine kleine Reflexionsstunde konnte euch Anregungen geben für euer eigenes Schreiben oder Schaffen, falls nicht hoffe ich, dass ihr Spaß hattet oder eben andere Gefühle. Lasst es mich wissen, in den Kommentaren. Falls nicht, lasst diesen Beitrag hinter euch und blickt nicht zurück.