
Übungen im Urteilen
Schönheit und Schmerz
Wenn semantisches, zu Sätzen und Satzverbänden geronnenes Material zu schmerzen beginnt und dieser Schmerz – wahrscheinlich als Reizkonfiguration, elektronisch übermitteltes Impulsgebündel – ausbreitet in einem Innenraum, der lediglich vorstellungshaft, nur durch Lichtschemen durchzittert ist, aber sonst eher Tonales resonieren lässt, sich durch eine schicksalshafte Verschmelzung psychologisiert, sich zu Personas und Avataren konstituiert, die nicht minder schemenhaft daher wabern, und diese Avatare dann beginnen, übereinander herzufallen, sich zu zerfleddern und immer auch den Adressaten, das Bewusste, zu attackieren und wenn man meint, jetzt, genau jetzt, müsse sich der eigene, bis an die holländische Grenze ausgedehnte Schädel spalten, dann jedoch ein erlösender Gedanke an Umrissen im Dunkel gewinnt, kaum hörbar ist, nur säuselt: „es ist alles ok“, dann ist das schön. Da man plötzlich weiß, dass nicht alles verloren ist, weil es nie verloren war, weil virtuelle Fantasieviecher wie fliegende Tischbeine mit Vanillesoße im Gehölz einen kontaktlosen Kampf austragen, seit jeher, in bunten Explosionen mit Phantomschlägen und abfälligen Halbzeitkommentaren und riesigen, schwebenden, schlecht animierten T-Rex-Köpfen und man irgendwie doch noch froh ist, Teil dieses seltsamen, schrecklichen Spektakels zu sein.
Schönheit und Abkeuchen
Wenn man sich mal (sicherlich aus Versehen) so richtig dolle bewegt hat, doller als man es hätte tun sollen, als je ein Mensch es hätte tun sollen (Sport ist Mort), und der eigene Atem dampflokig ein und rausfährt in die alte Körperhalle, die Lunge sich aufbläht wie indisches Brot in einer unbeschichteten Pfanne, die Augen aus den Höhlen heraustreten und gemächlich zu Boden kullern, die Hirn- und Stirnfalten pochend hämmern oder hämmernd pochen – auf jeden Fall Rabatz machen, der an Handwerkerrabatz erinnert -, man die Milchsäure spürt, wie sie die Muskelzellen laktoleriert (das Wort gibt es sicherlich), man überhaupt so gefährlich nahe am Abnibbeln vorbeibibbelt (gefühlt zumindest), dann ist das nicht schön, nein auf keinen Fall. Schön wird es erst, wenn es aufhört und man drei Tage durschlafen kann. Aber wer kann das schon?
Schönheit und Hygiene
Wenn man einer banalen Tätigkeit nachgeht – nehmen wir an, diese Tätigkeit hat mit der Reduktion von Fingernägeln zu tun – und man währenddessen bemerkt, dass diese sich aufgrund einer Abstumpfung des Werkzeugs als schwierig gestaltet, die Keratinplatten an der linken Hand unschön ausfransen statt mit einem satten Schnipp ordnungsgemäß herabzufallen, wenn also ein fleddriges Gefriemel wird aus einer Erfahrung, die sonst stark und klar für Ordnung an den Griffeln sorgt, sich dann jedoch glücklicherweise durch die zufällige Veränderung der Handhaltung ein neuer Schnitt-Winkel und damit eine neue Schnibbel-Methode ergibt, die das Schneide-Erlebnis an beiden Händen erfolgsorientiert synchronisiert, dann ist das mindestens eine schöne Erleichterung, die man so nicht erwartet hätte, da man die gewohnte Herangehensweise als alternativlos erachtet hatte, all die schorfigen Jahre und weiterhin ist diese geringfügige Rekalibrierung einer banalen Tätigkeit vielleicht sogar ein Umstand, der nicht nur den eigenen Bildungsoptimismus wieder entfachen, sondern ganz allgemein ein neues Licht in den vom Alltagsbewusstsein abgenutzten Gewohnheitsraum werfen könnte, der die Kiemen und die Blicke weitet, zumindest für einen Tag. Vielleicht.
Schönheit und Spiel
Wenn man das Gefühl hat, nichts Gehaltvolles hinzukriegen, auf einer oberflächlichen Wahrnehmungsebene herumzulungern, sich im Abarbeiten zu befinden, statt im Durchdringen oder zumindest Beschäftigen und dieser Zustand beginnt, sich etwas leidvoll anzufühlen, da es dem eigenen (unvollständigen, sehr einseitigen) Ideal vom tiefer denkenden (oder versuchenden) Menschen, der dadurch seine Menschlichkeit überhaupt erst gewinnt, widerspricht, das man gerne an sich und andere (wahrscheinlich aus Sinnsehnsüchten heraus) anzulegen pflegt, und man sich dann dabei ertappt, blubbernde Geräusche und jauchzendes Blödeln im Spiel zu erzeugen, weil dieses sich in einem Austausch mit einem Wesen organisch ergibt, das solche Ideale noch nicht hat und auch nicht braucht, und man diese umwälzende, humanisierende Kraft der Albernheit zumindest erahnen kann, die sich nicht gut formulieren lässt, dann ist das schön und befreiend und ein bester Mittwoch unter mindestens hunderten.
Schönheit in düsteren Zeiten
Wenn ein global erschütterndes Ereignis die geistige Kruste liberaler Politiker*innen penetriert und darin Einstellungsänderungen bezüglich einer möglichen Energiewende anregt, auch wenn das Ereignis schrecklich in seiner Erscheinung und seinen Implikationen ist und diese Einstellungsänderungen vielleicht wiederum irgendwann geändert werden könnten, bis sie vielleicht gar keine Änderungen mehr sind [wer weiß], dann ist das nicht nur schön, sondern erlösend richtig. Wenn Christian Lindner allerdings plötzlich Sätze sagt wie „erneuerbare Energien sind Friedensenergien“, muss man die Möglichkeit, sich plötzlich in einem Paralleluniversum zu befinden – in dem alles spiegelverkehrt ist, es also bspw. einen lustigen Felix Lobrecht, leckeres Becks, eine kluge Debattenkultur in Deutschland gibt und Fatbikes nie erfunden wurden –, ernsthaft in Betracht ziehen.
Schönheit und Technologie
Wenn der ganze elektronisch-digitale Scheiß [wobei „Scheiß“ nicht als naive und stumpfe und kulturpessimistische Abwertung gemeint ist, sondern mindestens so ambivalent, wie wenn man sagt „jetzt esse ich dieses scheiß gegrillte Käsesandwich“ ohne dabei jedoch der Fastfood-Analogie zu folgen, wonach der Gegenstand mehr Nach- als Vorteile besäße, dieses Wort also lediglich darauf verweisen soll, dass es sich um ein Phänomen mit positiven und negativen Aspekten handelt, die beide extrem sein können und es sich daher um einen schwierig zu beurteilenden Gegenstand handelt] mal kurzzeitig aus und offline ist, dann ist das völlig ok und tut nicht sehr weh und ist gewissermaßen auch schön [ohne jedoch in eine naive und stumpfe – und letztlich auch wieder kulturpessimistische – Nostalgie zu verfallen, die ihr Heil in der Zurücksetzung aller technologischen Fortschritte sieht, sondern kritisch und wach und der Komplexität aller Phänomene im Urteilen gerecht werdend zu bleiben und sich etwas erholt zu fühlen, weil man an einer Blume gerochen hat]. Aber jeden Tag muss man das auch nicht haben.
Schönheit und Wut
Wenn sich das eigene Ego, das eigene Sich-Ernstnehmen, das eigene Sich-prinzipiell-beleidigt-Fühlen aufbäumt und man sich tatsächlich beleidigt fühlt von Dingen, von denen man sich ganz sicher ist [obwohl man das nicht sein kann], dass diese vom Dingauslöser auch tatsächlich beleidigend gemeint sind und Wut in die Gliedmaßen wandert, die eh schon müde sind und es allmählich eng da drinnen wird, und sich diese Wut in weiteren [Situationen] als der Ursprungssituation fortsetzt, gleich einem raffinierten, hoch ansteckenden Virus [wofür mir gerade kein Beispiel einfallen will] den gesamten Tag infiziert und man endlich den gereizten Ton in der eigenen Stimme bemerkt und die ständige Bereitschaft zu Schreien und es dann wundersamer Weise gelingt, nur für zwei Sekunden wahrzunehmen, dass dieser ganze Ärger bloß Illusion, bloß eine Idee des Egos, des Sich-Ernstnehmens, des Sich-prinzipiell-beleidigt-Fühlens, also ein Vielleicht und kein Ganzsicher, sein könnte, nur eine Möglichkeit von vielen, dann ist das kurzzeitig schön, weil es verdeutlicht, dass ein Ausweg stets potentiell ist, den man vorher und nachher für stets undenkbar hält.
Schönheit und Zeit
Wenn Zeit, die man stets zu knapp wähnt, sich unerwartet vor einem ausbreitet, sich niederlegt vor die großen Zehen [und die restlichen], devot gar – so scheint es –, als ergebe sie sich endlich, wenngleich man natürlich weiß, dass Zeit das unbändigste und ungnädigste Ding ist, auf dieser Welt [Camus schrieb von ihrer blutigen Mathematik], und man zunächst verdutzt ist, von diesem unbekannten Verhältnis, von dieser Chance, dieser Möglichkeit, wobei sich diese Verdutztheit dann schnell in eine gähnende Ideenlosigkeit verwandelt, was mit dieser Zeit nun anzufangen sei und man förmlich spürt, wie sie durch die Finger rinnt, die gerade in irgendeinem Buch nach irgendeinem Gedicht suchen, an das man sich nicht mehr erinnern kann, um danach Nasenhaare zu schneiden [etwas, wofür eigentlich stets genügend Zeit ist] und auf irgendeiner Website rumzudüdeln oder sich durch die frustrierende Social-Media-Timeline zu wischen, schließlich ein Paket zu verpacken, das schon seit Tagen gepackt werden wollte und dann die Zeit sich – erholt von ihrer kurzen Auszeit – aufbäumt und mit einem gezielten Nackenschlag das traurig-fröhliche Dingeln beendet…dann ist das zumindest dahingehend schön, dass Verschwendung, selbst wenn das Gut schmerzlich knapp ist, immer noch funktioniert und in dieser stets ein Potential der Befreiung schlummert – von den Dingen, von denen man zu viel und zu wenig hat.
Schönheit bei der Medienrezeption
Wenn Max Spallek und Sonja Koppitz auf Radioeins zu hören sind und mit ihnen halsige Lachgeräusche und verpupsmundigte Formulierungen und das Gefühl aufkommt, dass die beiden Sprechenden sich für deutlich witziger halten als sie sind, da sie eine aufdringliche Freude über das eigene unlustige (aber fälschlicherweise als lustig imaginierte) Gerede kommunizieren, während der Kopf bereits zum dritten Mal gegen den Lenker knallt, weil man in eine hässliche Haltung geraten ist, nämlich diejenige des geifernden Verneiners, des tobenden Wütlings, desjenigen, der sich grimmig abwendet und salzsäulig wird in seiner Abneigung, dann ist es schön, wenn der rettende Gedanke durch das marode Mauerwerk der eigenen Normvorstellungen hindurchbricht, dass die Welt nicht den eigenen Ansprüche zu gehorchen hat, sondern frei ist, wie man selbst, wenn man es schafft, sich nicht als einzig legitime Beurteilungsinstanz zu begreifen. Dann sollte man das Radio jedoch lieber ausschalten.
Schönheit und Absage
Wenn man aufwacht an einem Sonntag, in einer Woche, die lang war, in einem Monat, der sich verkleidet als bärtiger Mann an der Kasse, dessen Arschbackentrennungsmulde über die ausgewaschene Bluejeans linst, und alles zu ziehen beginnt am eigenen Leib, was nicht ziehen, ja, was nicht einmal zupfen sollte und man in seine Wahrnehmung hineinluchst und diese nichts weiter ist als ein Mosaik von Situations- und Emotionsfragmenten, vor dem man stets zu viel Zeit, staunend und zweifelnd, verbringt, und sich bereits eine in Worten nur schwierig formulierbare Trauer heranschleicht, katzen-[und damit auch immer ein wenig bös-]artig und dann aber ein Anruf auf dem Seltene-Erde-und-kritische-Rohstoffe-Gerät eintrifft, der verheißt, dass ein Termin, vor dem man sich innerlich die ganze Woche bereits gefürchtet hatte, weil man an diesem wieder hätte performen müssen, obwohl man sich gar nicht nach performen fühlt, plötzlich ausfällt und man etwas mehr Zeit, die natürlich [zwangsläufig] den Sturzbach hinuntergehen wird [wie Sherlock Holmes], gewonnen hat, die man dann ungenutzt verstreichen lassen kann, dann ist das schön. Für ca. 25 Minuten und 14 Sekunden. Reicht ja auch.
Schönheit und Widerspruch
Wenn ein Mensch, der in Prenzlauer Berg lebt – also an einem Ort, an dem ständig jeder das Gefühl haben muss, sich irgendetwas einfallen zu lassen, um zu sein – keine stylische Vintage-Klamotte, keinen Pullover, der 250€ kostet, aber nur nach 20€ aussieht oder ein ironisches T-Shirt trägt, sondern einfach nur eine unscheinbare Hose, ein Hemd und einfarbige Schuhe, zumindest wenn es sich um den verzweifelten Versuch einer geistigen Rettung handelt, in dem dieser Mensch anders sein möchte als seine Umgebung, die natürlich auch nur anders sein möchte als ihre Umgebung [usw.], auch wenn dieser Versuch zum Scheitern verurteilt [da in einem Kreislauf gefangen] und gleichsam bemerkenswert als auch trivial ist, da jeder diesem Impuls der Distinktion folgen muss, diesem Streben danach, ein originäres [also ein nicht von irgendetwas abgeleitetes] Wesen sein zu wollen, was natürlich niemals der Fall ist und nur ein weiteres absurdes und leiderzeugendes Unterfangen darstellt, dem man sich hingeben muss, wenn man Teil der menschlichen Angelegenheiten ist…dann ist das schön, wie die vielen weiteren unzähligen Widersprüche, denen man sich unterwerfen können muss. Zumindest, wenn man für 5 Sekunden dieses Schauspiel meint, erkannt zu haben, um danach weiterzumachen – amnestisch und zauberhaft verloren.
Mehr Schönheit gerne auf Anfrage: mail@alpuch.de