
Kurz- und Etwas-länger-Prosa
Da die Aufmerksamkeitsspanne der/des Internetuser*in höchstwahrscheinlich gering ist, gibt es hier pro Monat einen Prosa-Text zu lesen, aus meinem unerschöpflichen (hätte ich wohl gern so) Fundus. Damit ihr einschätzen könnt, ob sich der Aufwand lohnt, ist auch stets eine ungefähre Lesedauer angegeben.
Der November-Text heißt Tommi und stammt aus meinem Projekt Disability Stories. Die Lesedauer beträgt ca. 3 Minuten
Tommi trägt Vollbart und schiefe Zähne, zwei fehlen in der Mitte und wenn Tommi hustet, kracht und pfeift es, als würde ein antiquierter Schiffsmotor nicht anspringen wollen. Er sitzt auf der Bank und zieht an seinem Bier, zieht es zwischen seinen Eckzähnen hindurch, „Swieetsch“ und wirkt dabei stoisch, fast wie ein Buddha, dem er auch bezüglich seiner Körpermitte ähnelt. Er sitzt auf der Bank vor dem Späti, neben anderen Menschen, fängt unverfängliche Gespräche an, brummt ein wenig. Er tastet sich heran, erzählt ein zwei Dinge über Fußball – es ist gerade WM – spielt Sätze wie Doppelpässe, bestätigt mit kurzen Jas und nennt andere Männer am Tisch gerne „Großer“. Dann kommt ein Rollstuhlfahrer mit zerzausten Haaren heran, fragt nach einer Zigarette und erzählt von Sokrates und davon, dass wir alle Philosophen seien. Er behauptet, man müsste nur einen Satz wirklich wissen, das würde reichen, mehr bräuchte man nicht, einen Satz wissen und diesen sagen, das würde genügen, wie der Dicke aus dem Film Evolution, der hatte nur einen Satz im ganzen Film, eine Mikrosprechrolle und er wusste schon zu Beginn die Lösung. Dann fragt Tommi, warum ich so nett bin und ebenfalls Jerome Merkel, den Boxweltmeister aus dem Wedding, mit dem ich an diesem Abend verabredet bin, und er fragt mich, ob ich mit Behinderten arbeite, denn er selbst sei behindert und der Mann im Rollstuhl ebenfalls. Das würde man merken, meint er, weil ich nett sei. Er, Tommi, sei lernbehindert. Das sagt er und er macht eine wischende Bewegung mit der flachen Hand in der Höhe seiner Stirn und er erzählt davon, dass sich normalerweise keiner so wirklich mit ihm unterhält, die Leute schnell aggressiv werden würden.
Der Mann im Rollstuhl erzählt mittlerweile davon, dass es doch sinnvoll wäre, die Saugkraft von Pflanzenwurzeln zu messen und wieso noch niemand auf diese Idee gekommen sei. Tommi nickt und sagt gelegentlich „versteh ich nicht“. Dann geht es um Ötzi und weshalb seine Frau nicht gefunden wurde, den Titanicmitarbeiter, der sich bei „Wetten Dass…?“ eigenschlichen hatte und um die Philosophie, die den Charakter des Menschen stärkt. Tommi erzählt, dass er aus der Uckermark kommt und seit 13 Jahren in Berlin wohnt. Ob es ihm hier gefällt? Nein. Und dann erzählt er mehr, von der Gegend in Friedrichshain, die er gut kennt, von anderen Spätis, von Punks und Nazis, von seiner Frau, die ihn alle 20 Minuten anruft und mit der er seit vier Jahren verlobt ist, obwohl er nicht heiraten möchte. Tommi ist sympathisch, hat einen trockenen Humor und er sagt: Ich bin behindert, ich bin unter euch. Ich bin schlechter als ihr.
Alle Versuche, ihm vom Gegenteil zu überzeugen, prallen nicht nur an ihm ab, sie sind naiv. Sie sind nichts als Lippenbekenntnisse, Floskeln. Er sagt, er sei schlechter, nicht so viel Wert und er hat Recht. Hinter jeder Behauptung Tommi, Jerome und ich, wir seien gleich, wirken andere Kräfte, soziale Kräfte, die uns unterschiedlich machen. Die uns besser und Tommi schlechter machen. Man kann darüber hinwegsehen und im alltäglichen Umgang darüber hinweg handeln. Man kann tolerant und liebevoll sein, zuhören und verstehen. Doch sobald es um tatsächliche und wichtige Lebensentscheidungen geht, Beruf, Bildung, Wohnort, Familie, wird der Unterschied deutlich, erhebt sich dieser aus dem brummenden Nebel, der unsere Knöchel umwabert, dem überindividuellen Lebenshintergrund, den man sozialwissenschaftlich als Sozialstruktur bezeichnet und den man damit wahrscheinlich auch nicht in allen Aspekten erfasst. Dann wird erkennbar: Es gibt kein Geburtsrecht auf Anerkennung. Man muss sich diese erkämpfen. Und allein machen sie dich ein. Wie Tommi. Ich muss in keine Behindertenwerkstatt gehen und diese ist nicht der Horizont meiner beruflichen Perspektiven. Ich habe keinen gesetzlichen Betreuer, der für mich bestimmt und mit dem ich mich auseinandersetzen muss, um meine bürgerlichen Rechte wahrzunehmen. Ich werde – zumindest nicht immer – mit komischen Blicken versehen, wenn ich am Tisch etwas Dummes sage, zumindest, wenn ich danach etwas halbwegs Kluges anschließen kann. Ich habe keine Angst, dass die Typen, die ich gerade am Späti kennengelernt habe, demnächst bei meiner Arbeitsstelle auftauchen, da sie in der Behindertenhilfe arbeiten, und mich verpfeifen könnten. Tommi ist anders und das sagt er auch. Er ist nicht wie wir. Er ist behindert. Er ist schlechter. Davon ist er überzeugt.