Zunächst eine Empfehlung: Dieser Film ist ziemlich brillant. Wahnwitzige Schnitte, Perspektiven und Realitätswechsel, ungeheuer lustig-absurde Einfälle (Dildokampf, Ratatouille-Referenz, Kampf mit der Bauchtasche, etc.) – EEAAO hat alles davon und ist eine vielschichtige Filmerfahrung (mein Lieblingsfilm des Jahres). Grob gesagt geht es um Multiversen (ziemlich abgedrehte sogar), Identität, Persönlichkeit, Familie, Berufung (die Protagonistin hat eine wichtige Mission), Nihilismus ob der Unendlichkeit und – so meine ich – Liebe (doch dazu später mehr). Titus Blome hat in einem schönen Essay (ebenfalls empfehlenswert) nicht nur den Inhalt wunderbar zusammengefasst (was ich mir an dieser Stelle daher spare), sondern auch eine interessante Deutung vorgenommen: Dementsprechend symbolisiere EEAAO (u.a.) die Erfahrung des Subjekts in einer volldigitalen, vernetzten Welt, in der alles, überall und ständig zur Verfügung stehe. Entsprechend dieser Prämisse schlussfolgert Blome dann:
„Auch Jobu Tupaki [Anm.: Antagonistin] gefällt dieser Zustand nicht. Sie will Evelyn [Protagonistin] nichts Böses, sondern sucht jemanden, die (wie sie) die schiere Informationsflut aushalten kann, everything everywhere all at once zu sehen. Jemand, die verstehen kann, was sie durchmacht und vielleicht eine neue Perspektive darauf bietet: eine Mutter. Doch als Evelyn unter Jobu Tupakis Anleitung die Erfahrung aller Paralleluniversen gleichzeitig aufnimmt, wird auch sie davon gebrochen. Sie verfällt in denselben Zustand zynischer Gleichgültigkeit und stimmt zu: »Nothing matters«.
Das Heilmittel, das der Film für diesen Zustand anbietet, ist so enttäuschend wie realistisch. Evelyn löst sich nicht dauerhaft von den Paralleluniversen. Stattdessen rettet sie Joy und sich selbst, indem sie sich auf die kleinen Dinge besinnt: Familie, Freund*innen, das Unmittelbare. Sie tut dies nach dem Vorbild ihres Ehemanns, des albernen Waymond, der selbst in einem multiversellen Krieg seine Menschlichkeit nicht aus dem Auge verliert.
Das ist unbefriedigend und nicht nur, weil die Moral eines Films mit brillanter weiblicher Hauptrolle ist, dass sie mehr auf ihren Ehemann hören soll. Die digitale und die analoge Welt sind längst untrennbar verflochten. Eine Auflösung der Handlung in einem simplen Abkehren von den endlosen Verführungen des Multiversums produziert eine individualisierte Lösung im Konflikt mit der wortwörtlichen Gesamtheit des Seins – ein ungleicher Kampf. Und ein vertrauter.“
An dieser Stelle möchte ich jedoch gerne eine alternative Deutung ausformulieren: In der Sinnlosigkeit und Beliebigkeit des Universums (oder besser: der Multiversen), ist es Liebe, die hier als Ausweg angezeigt wird. Liebe als die Entscheidung für andere Menschen, eine Beziehung, einen Ort (symbolisiert durch den Ehemann, die Familie und den Waschsalon), im Angesicht aller möglichen Optionen, bzw. Konfigurationen von Realität. Liebe zeigt sich hier in vielleicht seiner zentralen Struktur: als eine ordnende, sinnstiftende Kraft, als ein Halt in der eigentlichen, existentiellen Haltlosigkeit. Ebenfalls zeigt sie sich sehr deutlich als Entscheidung, als das Treffen einer Wahl aus unendlichen Wahlmöglichkeiten, was diese Wahl zwar schwierig, aber gewissermaßen auch notwendig macht. Im Film (und vielleicht auch außerhalb davon) bestimmt diese Entscheidung über die Existenz, deren fundamentale Färbung. Sie kann also entweder eine Entscheidung zu Glück und Fortexistenz (symbolisiert durch Evelyn) oder eine Entscheidung für Nihilismus und den Wunsch, sich selbst zu beenden (symbolisiert durch Jobu Topaki) sein (weitere Möglichkeiten werden zumindest im Film nicht gezeigt). Eine Entscheidung, die es zu fällen gilt, die man stets fällen kann (auch wenn es nicht so scheint) und damit ein Ausweg ist, für das in universale Potenzen geworfene Individuum, das sich selbst als schicksalsfrei, als verloren zu glauben wähnt. Natürlich stellt diese Entscheidung keine fundamentale Lösung dar und auch in der Liebe weiß man irgendwann: diese Entscheidung muss des Öfteren (vielleicht sogar immer wieder) gefällt werden. Das Individuum wird also immer wieder vor die Frage gestellt und ist gezwungen, diese zu beantworten, wenn es ebene nicht in Nihilismus verfallen möchte.
Liebe in dieser Ausprägung, als verbindende und über das Alltägliche hinausgehenden Qualität, wurde auch in Christopher Nolans „Interstellar“ angedeutet, dort als Band zwischen Tochter und Vater, das über die Raumzeit hinaus verbindet – etwas also, mit dem Dimensionen durchwandert werden können. In beiden Fällen (oder besser Deutungen) ist natürlich Kitsch vorhanden: Liebe als omnipotentes, alles überdauerndes Konzept, etwas Göttliches eben. Doch erzeugen diese Deutungen Resonanz, denn die Erzählung der omnipotenten Liebe ist eine kulturell verankerte, in welcher Form auch immer. Demnach wird Liebe auch immer als ein Phänomen der Transzendenz begriffen, ein Phänomen, mit dem das Alltägliche überwunden und der Bereich des Spirituellen geöffnet werden kann. Daher vielleicht die Wichtigkeit der Liebe in der kulturellen Erzählung als auch in Everything, Everywhere All at Once.