Über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Poesie im digitalen Raum
- Nachdenken über die Form
- Realexistierende Beispiele
- Poesie in sozialen Medien als eine Grundlage für eine „poetische Kommunikation?
- Dokumentation des Verlaufs
Nachdenken über die Form
Ich fragte mich die letzte Woche über, als ich so in meinem Schlosspark ein Tässchen Champagner schlürfte und mich grämte über meine Gedanken: Was kann Poesie heutzutage eigentlich noch? Was wäre eine moderne Form für poetische Texte? Welche Voraussetzungen hätte diese? Und was wäre mein persönliches Vorhaben mit dieser Form von Poesie? Inspiriert dazu wurde ich durch die spannende Arbeit von Elisa Aseva, in deren Werk man hier einen Einblick erhahlten kann. Ich finde daran kann man erkennen: Kurze literarische oder lyrische Texte haben Stärken gegenüber anderen Kunstformen (etwa gegenüber dem zeitaufwändigen Roman). Lyrik kann durch die kreative Verwendung von Worten etwas ansprechen, das eine Ebene tiefer als der Intellekt liegt. Vielleicht kann man es Vorbewusstes nennen oder emotionalen Resonanzraum, der auch immer mit Bedeutungen gefüllt ist, in dem diese aber nicht klar greifbar sind, aus dem heraus sich der Intellekt jedoch bedienen kann. Lyrik kann treffen, irritieren, warme Gefühle auslösen, unmittelbarer als andere Kunstformen (zumindest die schriftlichen).
Wie kann daher eine moderne oder eher digitale Version von Poesie aussehen? Mir kamen zwei Thesen und zwei Fragen in den Sinn:
Begründungsversuche (1. und 2.)
- Nun zunächst: Wer kauft eigentlich noch Lyrik in Buchform? Der Markt ist überschaubar. Welche Möglichkeiten hat man im Alltag, mit Lyrik in Kontakt zu kommen? Abgesehen von Edeka-Werbung im Briefkasten gibt es da wenige Gelegenheiten. Mir fällt zumindest keine ein. Welches Medium ist jedoch nun in so gut wie jeden modernen Bürger hineingewachsen? Genau, die sozialen Medien. Ich persönlich möchte nachfolgend Twitter betrachten, da ich dieses Medium noch nicht so gut kenne und ich es ein bisschen faszinierend (ja, ich bin sehr spät dran). Der Twitter-Nachrichten-Strom besteht (aus meiner Perspektive, die von denjenigen bedingt wird, denen ich folge) aus:
…politischen Kommentierungen und Infos;
…lustigen Zweizeilern (m. E. der Twitter-Klassiker: humorige Kommentierungen des Tagesgeschehens oder des Alltags, die schnell konsumiert und geliked werden können und wahrscheinlich auch sollen -> das ist keine Abwertung, ich konsumiere und like ebenfalls gerne);
…humorigen Memes und anderen funny Bildern;
…lustigen Videos;
…Diskussionsbeiträgen zu gesellschaftlichen Themen (die meiner Meinung nach, da man jeden Tweet einzeln beantworten kann, irgendwann komplett zerfasern, zumindest in der Rezeption);
…und persönlichen Selbstoffenbarungen, Meinungs- und Gemütsäußerungen.
Das vielleicht typische Social-Media-Potpourri also. Die Begrenzung der Zeichen der einzelnen Tweets liegt bei 280. Das heißt, der Strom ist deutlich „schneller“ als bspw. bei Facebook. Es ist ein Nachrichten-Strom, der zugleich ein Völlegefühl hervorruft als auch Appetit macht auf den nächsten Tweet, der vielleicht noch kommt und wirklich satt (an Sinn) machen könnte. Zumindest etwas Sättigung an Sinn hervorzurufen wäre jedoch (lediglich eine weitere These) ein möglicher Auftrag der Poesie. Poetisches Zwischengezwitscher wird auch bereist von manchen Twitterers praktiziert, hier ein Exempel:

- In diesem ständigen Fluss aus Information, Unterhaltung und privaten Offenbarungen, der eine gewisse Eintönigkeit (wenn nicht gerade relevante gesellschaftliche Phänomene diskutiert werden) aufweisen kann, stehen lyrische Einschübe – wie oben – in einem interessanten Spannungsverhältnis. Das Auge und der Geist werden zunächst irritiert. Ich selbst bemerke, dass ich diese Beiträge zwar auch konsumiere, mir also nicht gebührlich Zeit für die Zeilen nehme, aber das Resultat ein anderes ist. Etwas anders in mir räsoniert damit. Die Emotion, der dazugehörige bedeutungsgefüllte, unbewusste Raum in mir, was auch immer, die Zielen verursachen etwas anderes als ein politischer Kommentar. Ich erhalte Einblick in den Erforschungsprozess des Emotionalen eines anderen Menschen, der mir entweder etwas über eine subjektive Emotion oder über Emotionen und deren Beschreibung an sich erzählt (oder beides). Das interessante an Lyrik ist ja, Worte zu finden, für emotionales Erleben (natürlich nicht nur), was auch immer bedeutet, sich damit zu beschäftigen, wie eine Gesellschaft Emotionen sprachlich codiert. Diesen Beschreibungshorizont zu erforschen und zu erweitern ist daher auch immer Teil des dichterischen Handelns (These). Diese kurzen Zwischenschübe, die mich eben nicht direkt mit einem Thema, sondern einer Emotion konfrontieren, empfinde ich als wertvoll, wenngleich natürlich relativ schnell der automatische Bewertungsmechanismus einsetzt und ich weniger gründlich prüfe als intuitiv kommen lassen, ob die Zeilen durch einen Like anerkennungswürdig sind.
Wie kann Twitter- oder digitale Poesie (3.) aussehen?
Erste Vermutung: Sie müsste wahrscheinlich kurz sein. So ca. 280 Zeichen lang [Smiley-Emoji einfügen]. Es gibt bereits Menschen, die die sozialen Medien als Raum für lyrische Nachrichten verwenden (Liste wird ergänzt…):




Es gibt hierbei teilweise Ähnlichkeiten (keine Reime – was ich sehr gut finde, themenvielfältig, eingängliche Rhythmen) und leichte Unterschiede (Zeilenumbrüche vs. Verslimitierung durch Sonderzeichen „/“). Es sind sehr schöne Miniaturen, die meiner Ansicht nach für (2.) sorgen. Weiterhin denke ich, dass eine digitale Poesie, die im digitalen Raum stattfindet, auch das Digitale selbst zum Thema machen kann. Meine ersten Versuche sahen daher so aus:


Ob eine Reflexion über das Digitale im digitalen Raum mit Mitteln der Poesie funktioniert, das heißt nachvollziehbar als auch resonanzerzeugend ist; ob die Form des Gedichts hierfür tatsächlich die beste Wahl ist; und ob diese Versuche von mir das Kriterium (2.) erfüllen, also etwas Tiefergehendes beim Lesen auszulösen, ist fraglich. Das Probieren geht natürlich dennoch weiter.
Showyourworkprocess
Ich persönliche versuche mich derzeit von Walt Whitmans Aussage inspirieren zu lassen, die da lautet:
„Der große Dichter hat nicht so sehr einen ausgesprochenen Stil, vielmehr ist er der Kanal von Gedanken und Dingen ohne Zugabe oder Abschwächung und der freie Kanal seiner selbst.“ (Theorie der modernen Poetik, Bd. 1, Walter Höllerer, Hanser Verlag, 2003, S. 78)
Nun halte ich mich nicht – und möchte ich auch nie – für einen großen Dichter. Dass derjenige jedoch, der versucht, das nicht zu Beschreibende mit möglichst originellen (im Sinne von nicht oft gehört) Worten zu beschreiben gewissermaßen einen Kanal öffnet, zu den eigenen tieferen Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken – die im Alltagserleben vielleicht keinen Platz haben -, das erscheint mir plausibel. Zumindest kann ich es erfahrungsgemäß nachvollziehen. Dementsprechend ist mein derzeitiges Vorgehen keine planvolle Konstruktion, sondern das assoziative Kommenlassen von Worten und Empfindungen (wie wohl die meisten Dichter arbeiten). Thematisch bin ich per se irgendwie auf Einsamkeit und Isolation zurückgeworfen, die ganz passend sein könnten zur vielvermuteten Einsamkeit im Digitalen.
Das heißt: Meine Methode ist Nicht-Methode, auch wenn es das, wenn man es genau nimmt, vielleicht gar nicht gibt, denn natürlich gibt es noch ein auswählendes Etwas, eine Instanz, die das Kreierte bewertet und dann eben doch komponiert – nur eben nicht vollständig bewusst. Vielleicht kann man es als ein mäandern zwischen eher intuitiven Wahrnehmungen und Entscheidungen bspw. bezüglich des Rhythmus der Sprache, des Klanges und der Assoziationen und einem doch bewertenden Reflektierten über den Inhalt beschreiben (obwohl ich stets versuche, letzterem nicht die Oberhand zu lassen). Sehr interessant fände ich dabei: Wie gehen andere Dichter vor? Falls ein Dichter an dieser Stelle des Textes angekommen ist: hinterlass mir gerne einen Kommentar dazu.
Dementsprechend ist mein neuester Versuch (ich kann nicht umher als alles Schaffen als Versuch zu begreifen):
#4
Flackerndes
Treibendes
LED-Gebimmel das!
in meine Träume
trieft: tief!
Morgen
wach ich auf –
versprochen!
Poetische Kommunikation (4.) – was ist das und wie geht das?
Letztlich dachte ich, etwas schwärmerisch: Ich fände es spannend – bezogen auf den digitalen Raum, der natürlich davon lebt, dass man sich sich austauscht, aufeinander verweist und sich gegenseitig kommentiert – wenn es möglich wäre, so etwas wie eine poetische Kommunikation zu führen. Diese würde ich vorerst als eine Kommunikation in kreativer Wortverwendung bezeichnen, die mehr anspricht als Humor oder Intellekt (obwohl beides auch angesprochen werden kann), sondern auch Gefühl, Emotion und sich mit deren Deutung und Veränderung im Sprachgebrauch beschäftigt, vielleicht auch mit persönlicher Sinnhaftigkeit, ohne jedoch stilistische Kriterien zu beachten oder aufzustellen. Idealerweise stünde die dichterische Güte eines Kommunikationsbeitrages nicht im Vordergrund, sondern der Versuch, sich Themen auf dichterische Art und Weise zu nähern, also bildhaft, bruchstückhaft, assoziativ. Diese Kommunikation kann dabei zweckfrei sein, vielleicht kann das Ziel aber auch prinzipielle persönliche Bereicherung sein. Wie kann man so eine Kommunikation ermöglichen? Wie fordert man den Rezipienten dazu auf, sich zu einem Gedicht zu äußern, sich selbst in Lyrik auszuprobieren? Fragen die mich noch etwas beschäftigen werden. Sobald sich tatsächlich Antworten ergeben, hier werden Sie zu lesen sein:
Dokumentation des Verlaufs
[Aktualisiert – 02.12.21]
Versuchsanordnung:
Das Ziel wird sein, lyrische Miniaturen zu schreiben, die irgend so etwas wie eine poetische Kommunikation einleiten oder zumindest eine Antwort (wenn möglich in lyrischer Form) provozieren. Meine erste naive Idee dazu ist, die lyrische Miniatur mit einer Frage zu beenden, einer sehr expliziten, durch die man sich angesprochen fühlen könnte/würde. Dies versuchte ich bereits bei vorherigen Miniaturen, dieses Mal jedoch expliziter. Thema/Themen sollen sein, natürlich das Digitale, wie es sich ins Alltagsempfinden gräbt, zugleich möchte ich jedoch auch das in Erscheinung treten lassen, was an Empfindungsmaterial im Moment des Schreibens vorhanden ist, da sich aus diesem ja der emotionale Gehalt des Geschriebenen entwickelt. Es läuft also auf einen inhaltlichen Mix hinaus, in dem ich versuchen werde, das umfassende Thema „Digitales“ zu berücksichtigen als auch das Rohe und spontane mit aufzuheben.
[aktualisiert – 03.12.21]
Versuch Nr. 5 lautet also:

[aktualisiert – 05.12.21]
Ergebnis: Keine Antwort.
Also neue Runde:

[aktualisiert – 07.12.21]
Ergebnis: keine Antwort.
Also neuer Versuch [diesmal ohne die explizite Frage am Schluss, da es der Inhalt nicht zuließ]:

An dieser Stelle ein (durch Rückblick gewonnener) Nachtrag: Mein Versuch ist stark von den Themen Einsamkeit, Selbstwert und Heilssuche im Digitalen durchdrungen, etwas in mir scheint also diese Verbindung herzustellen und darüber reflektieren zu wollen. Ich bin gespannt, ob so etwas Resonanz findet (sei es bspw. durch Likes – die natürlich ihre Like-Motivation verschweigen und daher auch stets inkomplett und oberflächlich sind, aber eben auch Konvention und daher gewissermaßen legitim), ob diese Themen auch andere Menschen ansprechen, die sich im digitalen Raum aufhalten. Natürlich drückt dieses lyrische Ich eine dramatisierte Version dieser Gefühle aus, die vielleicht jeder Social-Media-User hat. Ich bin gespannt. Ob darauf eine Antwort folgt, werde ich hier dokumentieren.
[aktualisiert – 17.12.21]
Ergebnis: Bisher noch keine Antwort. Der letzte Versuch lautete:

Zumindest teilweise hat jedoch ein Dialog mit anderen Lyrikern auf Twitter funktioniert. Hier die Dokumentation zweier Versuche:
#1


#2


Vielleicht ist diese Vorgehensweise sogar gewinnbringender. Ich werde weiterversuchen…
[aktualisiert – 28.12.21]
Es fühlt sich mittlerweile zwar etwas zwecklos an, dennoch ein neuer Versuch:

Dieser lädt nicht gerade zum Antworten ein, aber man weiß ja nie.
[aktualisiert – 30.12.21]
Es ist tatsächlich passiert, jemand hat geantwortet und zwar wunderbar:

[aktualisiert – 06.01.22]
Seit dem letzten Mal gab es keine Antworten mehr. Hier Versuch Nr. 10:


Auch hier gab es keine Antwort. Mittlerweile fühlt sich dieses Experiment verzweifelt an. Ich weiß nicht so recht, ob hier noch Resonanz erwartbar ist, zumindest deutet nichts darauf hin. Zu Berücksichtigen ist bei diesem Versuch natürlich, dass die Reichweite meiner Tweets äußerst gering ist. Ca. 30 Personen (laut Statistik) sehen diese und diese müssten dann auch noch die Muse aufbringen, sich poetisch zu äußern, was nicht jedermanns Sache und selbst für Menschen, die dies regelmäßig tun, nicht einfach ist (zumindest spreche ich hier aus eigener Erfahrung). Gleichsam ist das Warten (und damit immer verbundene Hoffen) auf Resonanz, die dann nicht erfolgt, emotional anstrengender als erwartet. Ich bin mir noch nicht sicher, wie es weitergehen kann. Der Gedanke an poetische Dialoge, an resonanzhaften Austausch im digitalen Raum, ist immer noch verlockend. Die Aufforderung hierzu kann jedoch nicht allgemein, sondern muss vielleicht tatsächlich persönlich überbracht werden. Ein nächster Schritt könnte also sein, mit digitalen Poeten direkt in Kontakt zu treten und diese zu fragen, ob sie an einem poetischen Dialogprojekt interessiert sind. Dennoch im Anschluss ein weiterer Schnipsel. Diese würde ich – da ich im Schreiben bleiben möchte – fortführen, ohne Reaktionswünsche. Mir persönlich bereiten diese Freude und ich halte sie für solide Lyrik, vielleicht etwas zu verschachtelt, allerdings: wieso sollte man Lyrik schreiben, wenn es dabei um Klarheit ginge, wenn diese nicht über den offensichtlichen Sinngehalt hinaus reichen sollte. Dementsprechend führe ich die #Twitterpoesie weiter, jedoch nicht als dialogischen Versuch.

[aktualisiert 19.01.22]
Der Versuch versandet und ich bin etwas gelangweilt davon. Dennoch bleiben die Themen „Digitalität und Kommunikation“ für poetische Gehalte spannend. Ich bin mittlerweile davon abgerückt, dialogische Reaktionen zu erhalten. Hierfür ist ein anderes Format notwendig, das ich demnächst entwickeln werde. Bis dahin möchte ich sprachlich weiterhin versuchen Twitter zu durchdringen. Hierfür schaue ich mir den Nachrichtenstrom genauer an und werde versuchen diese lyrisch zu spiegeln:

Nachteil dieser Lyrik ist ihr Abstraktionsgrad. Die Leser*in muss eigentlich verstehen, dass es sich bei den einzelnen Sätzen um Inhalte auf Twitter handelt. Dies sei ggf. noch beizufügen…
