Fragestellung + Definition

Inhalt: Kurze Begründung des Beschäftigungsinteresses und ein erster Versuch der Definition von „Urteilen“ anhand psychologischer Forschung.

Lesedauer: ca. 8 Min.

Alle Menschen urteilen. Ständig. In fast allen Situationen. Man kann sogar über das Urteilen urteilen (dieser Text ist ein Beweis). Die Corona-Pandemie hat nicht nur gezeigt, dass wir ständig urteilen und unterschiedlich urteilen. Sie hat gezeigt: Urteile können derart gegensätzlich ausfallen, obwohl sie dieselben Gegenstände behandeln, dass sie Urteilsgemeinschaften zu Feinden machen. Die Pandemie hat (u.a. natürlich) eine Krise des Urteilens sichtbar gemacht. Damit ist nicht gemeint, dass man einen komplexen Gegenstad wie die Pandemie „richtig“ und „falsch“ beurteilen könnte. Jedoch kann man auch komplexe Gegenstände „vernünftig“ und „unvernünftig“ beurteilen. Und um es hier gleich klarzustellen: Ich halte querdenkendes Urteilen für eine Form des „unvernünftigen“ Denkens, vielleicht nicht grundlegend, aber mindestens in den meisten Ausprägungen (und ganz sicher in dieser ganz konkreten, sehr aktuellen: Lügen und Hetze im Corona-Ausschuss), denn es ist nicht an Vermittlung von Ideen interessiert, nicht daran, im Austausch zu einem besseren Urteil zu gelangen. Stattdessen bedient sich dieses Denken einem naiven Zweifel: Prinzipiell alles was gesellschaftliche „Eliten“ behaupten, ist gelogen oder dumm; ergo muss etwas anderes wahr sein, egal wie abwegig das ist. Und es bedient sich der Verbunkerung von Ideen – man will bei dem Lieblings-Urteil bleiben („Corona“ ist nicht gefährlich), egal wie gut die Gegenargumente sind. Das dies alles für diejenigen, die so Urteilen Sinn macht, möchte ich gar nicht bezweifeln. Es erscheint mir jedoch nicht „vernünftig“.

Bevor nun jemand über die Pandemie diskutierten möchte, möchte ich Ulf Poschardt zitieren: Bitte nich![1] Darum geht es hier nicht. Es geht ums Urteilen, bzw. um das Urteilsvermögen: Ein spannendes, aufregendes Vermögen, von dem wir ständig Gebrauch machen, ohne uns – in der Regel – näher damit zu beschäftigen. Was machen wir eigentlich, wenn wir urteilen? Und warum? Gibt es gute und schlechte Urteile? Wer darf das bestimmen, wer kann das beurteilen? Kann es sein, dass mein Urteil nicht das beste Urteil des Universums ist? Kann es sein, dass ein anderes Urteil besser ist? Oder genauer? Oder vernünftiger? Was ist ein „vernünftiges“ Urteil eigentlich? Wie beurteile ich eigentlich andere Menschen und mache ich das gut? Mache ich das moralisch vertretbar? Oder urteile ich sogar ab? Es sind sehr viele (und noch mehr) Fragen, die diesem Thema entspringen.

David Foster Wallace soll einmal gesagt haben, dass ein gutes Sachbuch einem die Möglichkeit eröffnet, „jemandem halbwegs Klugem und zugleich halbwegs Durchschnittlichem dabei zuzusehen, wie er allen möglichen Dingen wesentlich mehr Aufmerksamkeit widmet und darüber nachgrübelt, als es die meisten von uns im täglichen Leben hinkriegen“. Nun möchte ich kein Sachbuch schreiben, das ebenfalls niemand liest. Da mich das Thema Urteilen jedoch schon seit längerem beschäftigt, ich hin und wieder (natürlich ungenügend), gezeitenesk (kommend und gehend) darüber nachdenke, ich mich also schon seit längerem diesem Thema widme, dachte ich mir, kann ich mir beim Nachdenken darüber auch zuschauen lassen und vielleicht ergeben sich interessante Dinge daraus (Situation, Gespräche, Ideen). Vielleicht hilft mir diese Quasi-Öffentlichkeit sogar dabei, meine Gedanken besser und vor allem nachvollziehbar zu formulieren und vielleicht hilft diese Formulierung dann irgendjemandem bei irgendwas (Gutem). Das wäre schön.

Was ist Urteilen?

„Arendts Antwort hierauf ist unbedingt und vorbehaltlos. Ohne Urteile, durch die unsere Welt verstehbar gemacht wird, würde einfach der Raum der Erscheinungen einstürzen. Das Recht, Urteile zu fällen, ist deshalb absolut unveräußerlich; denn nur indem wir ständig urteilen, sind wir fähig, der Welt für uns einen Sinn zu verleihen. Wenn wir durch Liebe oder mangelndes Selbstvertrauen unser Urteilsvermögen einbüßten, dann könnten wir sicher sein, unsere Orientierung in der Welt zu verlieren.“ (aus dem Essay „Hannah Arendt und das Urteilen“ von Ronald Beiner, veröffentlicht in „Hannah Arendt. Das Urteilen“, Piper, 2012, aus dem Nachlass herausgegeben von Ronald Beiner)

Urteilen bedeutet m.E. zunächst, einen Gegenstand zu betrachten, diesen einzuordnen und zu bewerten. Wenn wir von einem Schubladensystem ausgehen, mit dessen Hilfe wir die Welt für uns zugänglich machen, wäre das Urteil der Prozess der „Verschubladung“. Wenn man es etwas technischer Ausdrücken möchte: Man versieht einen repräsentierten Gegenstand (es ist ja nicht der Gegenstand selbst, den wir in unserem Geiste bearbeiten) mit einer (wahrscheinlich mehreren) beschreibenden, bewertenden und begründeten Aussage = Urteil. Dieses Urteil verwenden wir dann entweder als Orientierungshilfe für unseren ständigen Wahrnehmungsprozess oder als Grundlage für eine Handlung (und wahrscheinlich noch mehr).

Ein Beispiel: Der ZDF Fernsehgarten ist schädlich für ein kritisches Urteilsvermögen, da sich dort Menschen mit sehr oberflächlichen kulturellen Gegenständen beschäftigen und sich gemeinschaftlich durch monotones Klatschen in dieser Haltung bestärken. Natürlich ist das ein saublödes Beispiel. Dieses Urteil ist argumentativ nicht gut haltbar (da müsste man schon eine schlüssige Theorie heranziehen, nach welcher der „Genuss“ des Fernsehgartens tatsächlich zu einer allgemeinen unkritischen Haltung führen soll) und eigentlich ist es ein (Ab-)Werturteil, das sich eher aus einer emotionalen Ablehnung der kulturellen Ästhetik des Fernsehgartens ergibt. (Hier gibt es ein schönes Urteil diesbezüglich)

An diesem saublöden Beispiel kann man aber schon etwas über das Urteilen erfahren – und zwar, dass dieses stets eine argumentative und eine emotionale Komponente besitzt. Argumentativ dahingehend, dass wir, wenn wir Sprache verwenden, gar nicht anders können, als auch stets argumentativ zu denken. Was nichts anderes heißt, als Urteile und Entscheidungen zu begründen. Und zwar so, dass mir ein anderer prinzipiell zustimmen kann. Dieses Streben nach der Begründung ist so tief im menschlichen Austausch verankert, dass man es fast übersehen könnte. Hier möchte ich kurz zwischenmeinen: Ein gutes Urteil müsste argumentativ plausibel sein. Was auch immer das genau ist.

Weiterhin hat das Urteilen auch eine emotionale Komponente. Wenn wir urteilen, spielen unsere Affekte und Gefühle eine Rolle. Auch sie wählen aus, fließen ins Urteil mit ein oder fällen einfach ein schnelles Urteil – welches dann wahrscheinlich nicht wirklich gut begründet ist.

Bestandteile des Urteilens:

Das Urteil – so möchte ich vorläufig annehmen – besteht aus vier Elementen: Dem Gegenstand, bzw. den Informationen über den Gegenstad; einer Bewertung und einer Begründung. Das Vorfeld des Urteils (die Urteilsbildung) muss später noch einmal genauer betrachtet werden. Hier findet jedoch das Denken über den Gegenstand statt und hier haben Kriterien für das Urteil und die Urteilsvergangenheit (Gewohnheit) ihren Platz. In der nachfolgenden Grafik fehlt noch die ebenfalls beeinflussende Emotion:

Ein visueller Versuch

Diese Darstellung ist doch etwas unübersichtlich, aber hoffentlich nach kurzer Beschauung durchschaubar. Die Perspektive der psychologischen Forschung auf das Urteilen [2] ist relativ ähnlich:

Urteilsdefinition Betsch, Funke, Plessner

Hier wird zusätzlich eine Urteilsdimension identifiziert, auf der das Urteil mit einem bestimmen Wert eingeordnet wird. Man könnte bspw. den Geschmacks eines Käsebrötchens auf einer Skala von „schlecht“ und „lecker“ einordnen. Dabei wird wiederum klar, dass diese Dimensionen subjektiv sind. Da man sich aber über den Geschmack eines Käsebrötchens (wenn man Zeit hat) trefflich streiten kann (und manchmal auch muss) scheinen diese jedoch auch immer einen objektiven Aspekt zu haben. Diese Urteilsdimensionen variieren dann auch entsprechend der Art eines Urteils, weshalb ich nachfolgend – zur späteren Verwendung – zumindest noch vier Arten des Urteilens unterschieden möchte (vgl. Betsch, Funke, Plessner, S. 14-15):

Bewertung (evaluativ)

Diese Urteile kennt man aus dem Alltag. Es sind die schnellen Bewertung, ob man etwas mag oder nicht mag. Ob etwas positiv oder negativ ist. Ob etwas gut oder schlecht ist. Das sind die wunderbaren Urteile mit denen wir uns die Welt erschließen, sie schöner oder hässlicher sehen (und damit meiner Ansicht nach auch bis zu einem gewissen Grad konstruieren). Urteilsdimensionen wären hier bspw. gut/schlecht, angenehm/unangenehm, eklig/lecker.
Hier wird schon auffällig, dass klassische Urteile zumeist dichotom, das heißt zweipolig und irgendwie eindeutig zu sein scheinen, also gut oder schlecht, eklig oder lecker.

Vorhersagen (prädiktiv)

Ebenfalls beliebte und bekannte Urteile aus dem Alltag. Man könnte meinen, diese seien noch schwieriger zu fällen als Geschmacksurteile, immerhin müssen diese sich am Eintreffen der Vorhersage messen lassen. Hier wird ebenfalls der chronische Informationsmangel deutlich, den man im Alltag hat. Urteilsdimensionen wären hier wahrscheinlich/unwahrscheinlich.

Wahrheitsurteile

Hier wird es wieder etwas spannender. In der Forschung werden die Wahrheitsurteile in Bezug auf logische Schlüsse betrachtet und zwar, ob logische Schlüsse richtig oder falsch sind. Wie in allen Logikangelegenheiten geht es hier also um die Form des Schließens. Spannend sind jedoch die Wahrheitsurteile, die wir täglich treffen. Diese prüfen wir weniger – zumindest nicht bewusst – formal hinsichtlich des logischen Schlusses. Dennoch beurteilen wir, ob etwas wahr oder falsch sein kann, spätestens, wenn uns jemand etwas erzählt, also jemand eine Tatsachenbehauptung ausspricht. Urteilsdimensionen sind hier wahr/unwahr.

Soziale Urteile

Auch diese Urteile kennen wir – wir fällen sie über andere und uns selbst. Jeder fällt sie, denn jeder muss seinen Gegenüber irgendwie einschätzen. Man könnte auch sagen: jeder muss zu jedem irgendeine Meinung haben, wenn er mit ihm irgendwie interagieren möchte. Man braucht Annahmen, wie der andere sein könnte, wie ich mit ihm umgehen kann. Dabei sind soziale Urteile fast noch schwieriger zu fällen, als Urteile über Sachgegenstände. Die Information, die man über einen anderen haben kann, sind nicht nur ungenau und interpretativ, sondern auch zusammengesetzt aus sehr vielen unterschiedlichen Hinweisreizen (Mindestens: Hören wie jemand etwas sagt, was jemand sagt; Sehen wie jemand etwas sagt/handelt; dann vielleicht noch riechen, schmecken und fühlen – muss man aber nicht). Vorurteile sind ebenfalls soziale Urteile, nur meinen diese: ein abwertendes Urteil einem anderen Gegenüber aufgrund von Merkmalen, die er wiederum mit anderen Menschen teilt. Ein Vorurteil ist also weder ein gutes noch ein faires Urteil. Aber es ist sozial.

Man könnte auch Habermas Theorie des kommuniktaven Handelns heranziehen und festhalten: Wir urteilen stets hinsichtlich:

  • Wahrheit: in Bezug auf die Welt, die Realität, wir beurteilen, ob etwas zutrifft oder nicht, etwas der Fall ist oder nicht
  • Richtigkeit: in Bezug auf die soziale Welt, wir beurteilen, ob bspw. eine Handlung so sein soll oder nicht, ob sie angemessen ist oder nicht
  • Wahrhaftigkeit: in Bezug auf die subjektive Welt, wir beurteilen, ob eine andere Person wahrhaftig ist oder nicht, ob sie das meint, was sie sagt und wie diese prinzipiell einzuschätzen ist.

Soviel zum ersten Andenken, dahingehend, was ein Urteil ist und wie man es analytisch zu fassen bekommen könnte. Das Thema wird hierbei (noch) nicht in strenger akademischer Tiefe behandelt. Vorranging geht es erst einmal um möglichst verständliche Kategorien, mit denen man sein eigenes Urteilen im Alltag reflektieren und vielleicht verbessern kann. Ich hoffe, das ist gelungen. Falls nicht, gerne Kommentare dazu.


[1] Der provokante Welt-Chef-Redakteur bittet seine Abonnenten nicht zu kündigen und wirkt dabei etwas verzweifelt. Angesichts seiner krassen Twitter-Ausbrüche gegen alles was annähernd nach politischer Linken aussieht, ist das doch etwas witzig. Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=E-0wIWefoYA. Empfehlenswert ist auch die Böhmermann-Parodie hier: https://www.youtube.com/watch?v=F3-y0N2u2-w

[2] Quelle: Denken – Urteilen, Entscheiden, Problemlösen, Betsch Tillman, Funke Joachim, Plessner Henning, S. 19-24, 2011; ISBN 978-3-642-12473-0 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York

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