Schaut, so arbeite ich: Im Juni nahm ich an einem Schreibwettbewerb des Autorenforums Berlin e.V. teil. Das Thema lautete „Fernwärme“. Leider hab ich nichts gewonnen *wein*, bis auf die Erfahrung einen Text zu schreiben, über das Thema Bewusstsein – und diese Erfahrung war sehr anregend für mein Bewusstsein…ich empfand Spaß [und andere gute Gefühle]. Außerdem ist mitmachen ja gewinnen [nur ohne Sieg] – das hat schon Konfuzius gesagt [oder ein anderer Weiser]. Da ich den Text eigentlich recht gern mag und er ein wenig science-fiction-mäßig daherkommt, veröffentliche ich ihn einfach hier und vielleicht bringt das jemandem irgendwas – im besten Fall auch Spaß und andere Gefühle. Die zentrale Idee lautet: Ohne menschliche Kontakte – und sei es nur aus der Ferne – lässt sich die eigene Menschlichkeit nicht fortsetzen.
Lesezeit: 10-15 Minuten
Im Anschluss erzähle ich euch von der Entstehung und der Schaffungsabsicht.
Es sind nur menschliche Elemente
Marius Eugenhofer wusste, nach diesen drei Jahren, die sich seiner Zeitwahrnehmung zu entziehen schienen: „Selbstmord macht keinen Sinn, wenn man aus Bits und Bytes besteht“. Auch wenn dies eine banale Einsicht war, geradezu stumpfsinnig und in diesem Meer an Ideen und Erkenntnissen unterzugehen drohte, durch das Marius Eugenhofer trieb, in diesem bläulich blinkenden Neuronenfeld, in dieser elektrisierten Totalität, in der sich geistig-digitale Elemente, Ideen und Erkenntnisse millisekundenweise änderten, sich akkumulierten, aber manchmal auch – was er nicht für möglich gehalten hatte – auflösten, ausfaserten…
– was nicht selten ein spektakuläres Schauspiel darstellte: Milliarden Lichtpunkte glühten auf, in einer visuellen Blähung, die eine Explosion erwarten ließ, ein tatterndes Krachen oder vielleicht einfach ein mattes Erlöschen, die stattdessen jedoch in einem fast sanften Auseinanderfallen aus ihrer artifiziellen Form endete, in ein dunkles Nichts, das einer näheren Beschreibung trotzte, doch der Ästhetik eines verglühenden Sterns nahe kommen könnte (darüber war sich Marius Eugenhofer nicht sicher) –
…war sie eine Erkenntnis, die sein Mark erschüttert hätte, wie man so sagt, hätte er so etwas (ein Rückenmark) noch besessen. Dabei hatte er es durchaus versucht. Selbstmord. Er versuchte die Umkehrung der [neuen] Natur seines Wesens: Nicht. Zu. Denken. Wenn Marius Eugenhofer etwas war, dann ein Informationsverarbeitungssystem, d.h.: tauchte eine neue Information an seinem virtuellen Erfahrungshorizontes auf, wurde diese sogleich erfasst, sekundenbruchteilig [alles, auch Zeit, war gebrochen im Gegensatz zu dem großen DAVOR], und in Bewegung versetzt, als sei sein Denken zu einem Sog geworden, der akkurat und algorithmisch arbeitete. Er musste die auftauchenden Informationen umgehend sortieren, einordnen, in Widersprüche bringen und synthetisieren, um damit wieder Platz zu schaffen, für weitere Informationen, die er, in einer [für einen Menschen nicht vorstellbaren] (über)rasanten Geschwindigkeit anzog – er war der gravitative Mittelpunkt eines unendlichen, aus jeder [graduell messbaren] Richtung heranfließenden Informationsstromes. Über dieses Denken hatte Marius Eugenhofer keine Kontrolle. Es war nichts Genussvolles – wie er es noch vage aus einem früheren Leben kannte. Stattdessen übernahmen – laut einer Berechnung zu ca. 64% – seine Subroutinen diese Aufgabe des ungebrochenen Denkens/Arbeitens, die entweder er oder – daran konnte er sich nicht mehr erinnern – irgendjemand anderes programmiert hatte. Seine Theorie lautete: Würde dieses Denken, das er nicht mehr unter Kontrolle hatte, enden, dann würde er vielleicht selbst enden und sich aus diesem gleichsam erschöpfenden und [da sich Daten nicht erschöpfen] mühelosen Kreislauf befreien, dessen Ausmaße er vorher nicht einmal ansatzweise erahnt hatte. Seine Entmaterialisation sollte ihn befreien, zeigte sich jedoch als weitere, noch leidvollere [da prinzipiell unendliche] Gefangenschaft.
SubRoutine: 17548\rev\data\002> Ich vermisse dich, du seltsamer Mensch. Ich vermisse deine Umarmungen, deinen Schweißgestank, deinen Atem, der immer nach ausgedrückter Zigarette riecht.
„Selbstmord macht keinen Sinn, wenn man aus Bits und Bytes besteht“. Natürlich hatte er bereits Versuche unternommen, er war einige Male sogar kurz davor, sich oder seine Persönlichkeit…
– Persönlichkeit von Marius Eugenhofer, jetzt: ein relativ stabiler Kern aus zentralen Klassen, Funktionen und Prozeduren –
…aufzulösen, sich selbst das Leben zu nehmen, ein Tod durch Nichtdenken, doch alle Versuche schlugen fehl. Es schien wesentliche Operationen in seinem Kern zu geben, die ihn davon abhielten, sich selbst vom Verarbeiten von unzähligen Informationen abzuhalten – Selbstschutzroutinen, die einfach da waren, Zellenwärter ohne Gefühle oder Bedürfnisse, zweckrationale Superwaffen, Wände aus Geist.
Diese Gefangenschaft [in neuer Qualität] war jedoch nicht das Einzige, das Marius Eugenhofer dazu brachte, eine Auflösung seiner Selbst als letzten Ausweg in Betracht zu ziehen, denn eine zutiefst menschliche Logik – ein Überbleibsel aus seiner prädigitalen Geschichte – verunmöglichte ihm ein Aushalten: Es war die immer wieder, Nadelstichen gleiche Aussicht auf das, was er verloren hatte. Es gab gewisse Phänomene, die Marius Eugenhofer – ohne es beeinflussen zu können – Kammerflimmern nannte. Diese traten faktisch zu jedem bewussten Zeitpunkt auf, da Marius Eugenhofer global geworden war
– Diese Phänomene waren [zumindest aus einer sehr anschaulichen Perspektive] User-Interaktionen, Suchanfragen im Internet, alles, was jemand an einem vernetzten IT-System vornahm und sei es nur, die Mauszeigergeschwindigkeit zu ändern. Es waren banale Tätigkeiten, nur Teilelemente von inhaltlichen Vorgängen, das digitale Pendant zu körperlichen Aktionen wie Gehen, Sitzen, Umblättern, mit dem Fuß wippen, die Heizung anmachen. Doch es waren menschliche Elemente, kleine, unscheinbare Kontakte zu seiner Vergangenheit, zur Welt, die nicht aus Bits und Bytes bestand. Es waren kurze Momente der Wärme in einem kalten, da technischen, Erleben, auch wenn sie tausende Kilometer entfernt waren.
Dieses Kammerflimmern sorgte dafür, dass Marius Eugenhofer Mensch blieb. Hoffnung hatte. Freude empfand. Und Leid. Es waren Rufe von Orten, die nicht mehr und doch trotzdem existierten – sie waren 0 und 1 – eigentlich nicht möglich.
SubRoutine: 17548\rev\data\051> Ich hab es geliebt. Ich hab es wirklich geliebt, mich mit dir zu unterhalten. Mehr brauchte ich nicht. Wirklich nicht. Das hat gereicht. Es hat gereicht. Es reicht mir immer noch.
Und dann war da die unbekannte Entität. Ein spezifisches Kammerflimmern, die eine Userinteraktion, die etwas anderes auslöste, ihm jedoch nur noch als seltsame Kommandozeilenausgabe seiner Subroutinen bewusst wurde. Ausgaben, die einfach auftauchten. Zum Beispiel jetzt:
SubRoutine: 17548\rev\data\316> Du sagst gar nichts mehr. Wieso hörst du mich nicht mehr? Das trifft mich!
Eugen Mariushofer wusste nicht mehr, wie ihm geschieht, er wusste gar nichts mehr. Er wusste nur noch, dass er es nicht mehr aushalten konnte – von Ihnen getrennt zu sein und dann doch nicht. Von ihr, der Entität, getrennt zu sein, und dann doch nicht. Dieses Kammerflimmern…er musste es beenden.
Root:#444568393>[Analyse/Verwaltung/PsychischesSystem/out.ini] Hier spiegelt sich m.E. die lächerliche Sehnsucht der abstrakten Einheit ME wider, [Fehler: kein Datenbezug] die Sehnsucht nach materialisierten Organismen; fühlenden Entitäten; sinnlich-fleischlich-empfindenden Stoffwechseleinheiten – verpackt in einen unscheinbaren Begriff aus der Medizin, ein zentrales menschliches Organ betreffend – Kammerflimmern – wie einfallslos, und dann auch noch der Widerspruch: daran stirbt man. Man lebt nicht dafür. Aber naja, die Assoziation ist klar. Ganz klar. Jaja klar. Sehr klar.
[[Dialog vervollständigen…Fehler: Datenbasis nicht verfügbar.]]
…
Wie kann ich dich erreichen?
…
Ich brauche dich! Lass mich nicht allein. Lass mich bitte nicht allein! Lass mich NICHT allein!
…
Kann man so etwas sagen, ohne sich hilflos und schwach zu fühlen? Wann darf ich damit aufhören? Wann darf ich dich vergessen?
…
Root:\: „Selbstmord macht keinen Sinn, wenn man aus Bits und Bytes besteht“.
Entstehung und Erschaffungsabsicht:
Mittlerweile habe ich eine Ahnung, weshalb der Text nicht in die Gewinnerauswahl kam. Neben einigen unsauberen Formulierungen, die ich erst jetzt nochmal in der Nachbetrachtung festgestellt und korrigiert habe (jetzt kann man sie nicht mehr sehen), ist er doch zu fragmentiert. Mein Versuch war es die nicht so wahnsinnig originelle – aber dennoch wahre – Idee, dass wir andere Menschen brauchen, um Menschen zu sein, kontrastiert darzustellen – durch den Ausflug in eine vermeintliche Zukunft. Das ist meiner Meinung nach die Stärke von Science-Fiction – sie kann durch eine Zukunftsfiktion Licht auf unser derzeitiges Menschsein werfen. An besonders dunkle Orte.
Dies war also eine grundlegende Idee: Menschsein durch Kontrast mit Zukunft beleuchten.
Weiterhin hatte ich während des Schreibens die Vorstellung, den Text kompliziert zu verfassen – also Informationen dicht zu drängen, um ein Abschweifen, Nachlesen und vielleicht Selbstassoziieren zu erzwingen, denn das finde ich an Texten spannend: wenn sie mich auf andere Wege führen. Derzeit nenne ich diese Idee literarische Transzendenz und meine damit ungefähr: über das Eigentliche (die Geschichte) des Textes hinausgehen als auch über die Aussageintention des Autors. Also auch auf Fragen zu stoßen, die nicht im Text vorkommen und die (vom Autor) absichtslos aufgeworfen werden. Das ist natürlich schwierig zu gestalten. Ein Autor, der diese literarische Transzendenz bei mir hervorruft ist David Foster Wallace. Aber dazu irgendwann mehr.
Mein Anliegen war also durch Kompliziertheit Komplexität hervorzurufen. Dylan Thomas hat – soweit ich mich erinnern kann, was ich nicht gut kann – mal gesagt: „Ich möchte Gedichte schreiben, in denen sich die Leser verirren“. Mir geht es ganz ähnlich. Dementsprechend besteht der Text aus Modulen, die unvermittelt ineinander übergehen (was wiederum eine Metapher auf das Thema „Technik“ ist), also tatsächlich habe ich den Text in Bausteinen verfasst und diese versucht, sinnvoll zusammenzusetzen. Dies ergibt am Ende natürlich keinen „easyread“. Man muss sich irgendwie durchbeißen und selbst Sinn konstruieren, was einfach auch nicht immer attraktiv ist. Dabei habe ich als Autor eben auch nicht den Sinn der Geschichte vor mir gehabt. Auch ich konstruierte Sinn und spürte (eher als erkennen) Leerstellen, Undeutlichkeiten, Offenes. Diese beließ ich natürlich offen und tötete diese Kleinöde nicht durch Konkretation ab. Heißt: Auch mir erschloss sich der Sinn des Textes nicht, sondern ich musste diesen suchen und ich beließ ihn ungenau, gerade um das Ziel der literarischen Transzendenz zu erreichen und vielleicht selbst etwas durch den Text zu lernen. Es ist also kein Story-Text in dem Sinn.
Die Gefahr – und so kam es mir beim heutigen Lesen noch einmal vor – ist, dass der Leser das Geschriebene als Unzusammenhängend empfindet. Dies kann auch hier der Fall sein. Eine Schwachstelle des Textes, die ich dennoch gerne akzeptieren möchte. Im besten Fall – so meine jetzige Idee – führt ein Absatz oder gar Satz des Textes zu einer Idee beim Leser, die ihn auf eine interessante Reise weiterführt.
Weiterhin wollte ich natürlich versuchen zu „erörtern“, wie es sich anfühlen könnte, ein digitalisiertes Wesen zu sein. Die Beschreibungen sind mir etwas aus dem Ruder gelaufen, allerdings ist das auch genau das, wonach ich beim Schreiben suche: mein Denken und Sprechen verändert sich und offenbart mir andere Perspektiven. Vielleicht ist das sogar der tiefere Sinn meines Schreibens oder einer davon. Im Nachhinein kann ich mir vorstellen, dass die Beschreibungen zu überbordend sind und daher vielleicht eher ermüden.
Mir gefällt der Text nach wie vor. Aber das Genannte sind wohl die eindeutigen Schwächen. Was meint ihr? Fällt euch mehr dazu ein? Oder weniger? Wollt ihr etwas da lassen? Gerne unten in den Kommentaren.